Jetzt wo die Arbeitswelt jeden Tag noch unübersichtlicher zu werden scheint, sollen wir uns auch noch selbst führen! Denn, die Leute, die Lust haben andere zu "führen", werden immer weniger, jene die es können sowieso. Das ist weiter kein Problem, solange alles harmonisch abläuft. Wenn wir einander aber auf den Geist gehen, bleibt uns als Notlösung nur, dass wir so tun als ob alles in Ordnung wäre.
Um aus dieser Misere herauszukommen suchen Unternehmen nach den superkompetenten Führungskräften, die mehr können als nur Ziele vorzugeben. Führungskräfte, die coachen und moderieren können, damit der Zoff überhaupt angesprochen und gelöst werden kann. Solche sind aber kaum zu finden. Und selbst wenn diese Superführungskraft gefunden ist, ist immer noch mit Schwierigkeiten zu rechnen. In diesem Fall werden zwar die Techniken der Konfliktmoderation beherrscht und diese Superkraft nimmt, obwohl sie selbst Teil des Systems ist, eine neutrale Rolle ein, moderiert empathisch, wendet Fragetechniken richtig an und bleibt dabei souverän. Dennoch führt eine derartige Kompetenz unweigerlich zu einem weiteren Autoritäts-Gefälle: Die streitenden Mitarbeiter*innen und die souveräne Führungskraft, die den Karren aus dem Dreck moderiert. Wie soll da Augenhöhe gewahrt werden? Zugegeben, das ist ein Luxusproblem mit Seltenheitswert, da diese Superkraft ohnedies kaum zu finden ist.
Was also tun, damit die Vielen, die in einem zwischenmenschlichen Spannungsfeld arbeiten nicht in toxischer Harmonie oder kühl gehaltener Distanz verharren müssen?
Ambivalenz-Fähigkeit lernen
In den vergangenen Jahren hat jede*r von uns ganz konkrete Erfahrungen mit Spaltungen gemacht. Die anderen und wir. Die "richtige Position" wurde wichtiger als die Art wie wir mit unterschiedlichen Meinungen umgehen, Menschen rückten voneinander ab. Wir haben trainiert entweder ganz nahe und einer Meinung zu sein oder in kalte Distanz zu rücken. Das hat in Arbeitsgruppen Spuren hinterlassen. Wir haben verlernt, dass wir uns mögen, und einander zugleich auch auf die Nerven gehen können. Unter dieser Prämisse ist aber keine Zusammenarbeit möglich, die uns guttut. So können wir nur absolut harmonisch sein oder spinnefeind.
Wir müssen dringend und ganz schnell (wieder) lernen, dass in unseren Herzen und in einem starken Team Platz für beides sein kann und muss. Wir gehen einander auf den Geist WÄHREND wir uns gegenseitig schätzen. Diese Grundhaltung ist wichtig und trainierbar. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, dass jemand erst das Recht hat, ein kritisches zwischenmenschliches Thema anzusprechen, wenn sie/er eine wertschätzende Verbindung zu der betreffenden Person aufrechthalten kann.
Wie könnt ihr das trainieren?
An erster Stelle braucht es die Erkenntnis, dass eben diese "Ambivalenz-Fähigkeit" nötig ist, um miteinander weiterzukommen. Es muss allen klar sein, dass es nicht nur ok ist, sondern NOTWENDIG, dass ihr euch eingesteht, wenn euch etwas stört, ohne deswegen gleich in das Gefühl des Dramas zu kippen. Ihr müsst die Person, die euch gerade nervt, deshalb ja nicht gleich hassen oder verdammen.
Diese "awareness", also das bewusste Wahrnehmen, wann einem jemand auf die Nerven geht, ist schon der erste Schritt. Es ist ein Balanceakt, das unangenehme Gefühl nicht zu unterdrücken, aber auch nicht zu übertreiben. Wenn ihr das geschafft habt, kommt das kleine Kunststück: In diesem Moment des genervt seins besinnt ihr euch nämlich auf das, was ihr an der Person schätzt. Achtung, nicht gleich den Faden des Genervt-Seins fallen lassen. Ambivalenz-Toleranz heißt ja BEIDES ZUGLEICH wahrzunehmen. Ohne in die allumfassende Harmonie zu kippen und auch nicht in die Abwertung der Person, die einen gerade nervt.
Macht es zum Teil eures Miteinanders, eurer Alltagskultur, dass Ambivalenz zu einem ehrlichen und erwachsenen Miteinander gehört.
Habt ihr in eurem Team Ambivalenz Toleranz aufgebaut, dann ist das eine tolle Basis, um zwischenmenschliche Spannungen konstruktiv zu bearbeiten. Ganz ohne externe Unterstützung! Wie ihr gegen diese Sprachlosigkeit vorgehen könnt, erfahrt ihr beim nächsten Beitrag, denn "Work life begins at the end of speechlessness".
Mag. Reingard Winter-Hager
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